Dienstag, 18. Oktober 2016

Vorgeschichte Kapitel 10

10. Ein Unglück kommt selten allein

Eilin


Ganz vertieft in ihre Gedanken um das was Joel ihr eben von seinem zweiten Gespräch mit diesem Tyson berichtet hatte, zuckte sie erschrocken zusammen als plötzlich das melodische Bimmeln der Klingel erklang. Vollkommen irritiert wanderte ihr Blick zu der runden Wanduhr im Esszimmer. Es war schon nach zwölf, die Sonne schon lange untergegangen. Wer um alles in der Welt stattete ihr bitte um diese Uhrzeit einen Besuch ab?
Joel schien ähnlichen Gedanken nachzuhängen, doch statt irritiert wie sie zu wirken, blickte er viel mehr alarmiert in Richtung Tür.
Na wenn das mal kein Grund zur Freude ist.
Kam es ihr ironisch in den Sinn. Trotz des flauen Gefühls in ihrem Magen bemühte sie sich darum ruhig zu bleiben als sie aufstand und zur Tür ging, dicht gefolgt von Joel der ihr einen warnenden Blick zuwarf. 
Sie konnte innerlich nur mit den Augen rollen. Was dachte er denn bitte? Dass da einer mit einer Waffe vor der Tür stehen und sie sich todesmutig auf ihn stürzen würde? Also so dumm war sie nun auch wieder nicht. Mal ganz davon abgesehen dass das eine ziemlich unrealistische Vorstellung war.



Wie sich im nächsten Moment auch schon herausstellte, war seine Sorge tatsächlich unbegründet gewesen. Als sie die Tür ruhig aufschob, blickte sie einem brünetten Teenager ins allem Anschein nach völlig aufgelöste Gesicht. War er hierher gerannt? Seine Haut glänzte leicht im Schein der Außenbeleuchtung des Eingangsbereichs und sein Blick wirkte ein wenig gehetzt.
Sie spürte Joels Wärme als er neben sie trat und wollte schon etwas sagen, den Jungen fragen was er wollte, als dieser selbst zu sprechen begann. Seine Stimme überschlug sich regelrecht und seine Gesichtszüge zeugten von Angst oder Sorge. So genau konnte sie es nicht sagen. Aber auf jeden Fall etwas in der Art.
"Mein Name ist Arjun Kapur, Deirdre hat ihnen von mir erzählt soweit ich weiß."
Das war Arjun? Ihr Blick wurde für ein paar Sekunden forschend, allerdings schlug das fast sofort in ein ungutes Gefühl um. Ihr Magen zog sich regelrecht zusammen. Warum sprach er Deirdre an, um diese Uhrzeit und auf diese Weise... kurz hatte sie Angst ihrer Tochter wäre etwas zugestoßen, doch dann fiel ihr wieder ein, dass sie sie vor ein paar Stunden selbst ins Bett gebracht hatte. 
"Aber egal, das ist jetzt nicht wichtig! Deirdre hat mir vorhin geschrieben dass sie sich heimlich raus geschlichen hat und ihrem Vater-" sein Blick fiel kurz auf Joel, der ihn mit einem undefinierbaren aber irgendwie starrem Blick fixierte. "gefolgt ist! Ich hab echt versucht sie aufzuhalten, ich hab ihr geschrieben sie soll sofort wieder Nachhause gehen und dass das viel zu gefährlich ist und-" 


Er verhaspelte sich, brachte kein verständliches Wort mehr über die Lippen und trat von einem Fuß auf den Anderen während er versuchte sich zu beruhigen und tief durchzuatmen. Täuschte sie sich oder sah er aus als würden ihm gleich die Tränen kommen? 
Die Verzweiflung die in ihm herrschte war jedenfalls deutlich spürbar auch wenn Eilin gerade deutlich mehr mit der Verarbeitung des gesagten und somit ihrer eigenen Gefühle zu kämpfen hatte. Was hatte ihre Tochter angestellt... was hatte sie getan... sie war nicht wirklich... oh nein... das... das konnte nicht sein...
Es lief ihr eiskalt den Rücken runter und sie spürte wie die Verzweiflung mit ihren kalten Fingern nun auch nach ihrem Herz zu greifen schien. Hilfe kam von unerwarteter Seite, wenn auch nicht unbedingt auf wünschenswerte Weise.
Denn Joel schien nun endlich wieder zu seiner Sprache gefunden zu haben, obgleich seine Reaktion ganz entgegen dem war was man in so einer Situation vielleicht erwarten würde.
"Du bist der Scheißkerl der sich mit meinem kleinen Mädchen getroffen hat....? Und offensichtlich obwohl ich es ihr verboten habe immer noch Kontakt zu ihr hat?!!!"
, gab er in offensichtlich nur mühsam beherrschter Wut von sich, packte den armen, aufgelösten Teenager am Kragen und zischte ihn zutiefst erbost an:
"Was fällt dir eigentlich ein?!!!"
Der Junge schien offensichtlich vollkommen vor den Kopf gestoßen und gar nicht recht zu wissen wie er darauf reagieren sollte. Mit großen erschrockenen Augen starrte er Joel an, hatte abwehrend die Hände gehoben und wirkte als würde er nach Worten suchen.
Und da war er nicht der Einzige. Auch Eilin konnte die Reaktion ihres Freundes nicht glauben. Vollkommen fassungslos starrte sie ihn an, schüttelte leicht den Kopf und brachte kein Wort heraus. Das war ja wohl der denkbar dämlichste und ungünstigste Zeitpunkt den er sich hätte aussuchen können für diese Reaktion! Was ging nur in dem Kopf dieses manchmal wirklich selten dämlichen Gorillas vor sich!
Arjun fand seine Sprache früher wieder, griff nach den Handgelenken des Älteren, machte aber keinerlei Anstalten dazu sich aus dem Griff zu befreien. Stattdessen brachte er nur halb fassungslos halb verzweifelt hervor:
"Das ist jetzt ja wohl echt nicht der Zeitpunkt um ihre Wut an mir auszulassen! Deirdre hat mir vor gut einer halben Stunde zum letzten Mal geschrieben und zwar dass sie jetzt zu ihm geht! Verdammt sie ist da ganz alleine und ich bin sofort losgestürmt um zu ihnen zu kommen weil ich nicht wusste was ich sonst machen soll! Ich hab mehrmals versucht sie anzurufen aber ihr Handy ist entweder aus oder nicht erreichbar! Mir ist klar dass sie wütend sind weil sie weiterhin Kontakt zu mir hatte aber können sie das nicht auf später verschieben und erstmal etwas wegen ihrer Tochter unternehmen?!"
Unfassbarer Weise schien Joel abermals auffahren und ihn nun tatsächlich anschreien zu wollen. Eilin konnte es nicht fassen wie verdammt stur und bescheuert er manchmal war! Da bekam man wirklich das Gefühl man redete mit einer Backsteinwand.
Bevor er allerdings auch nur einen Ton herausbekam, platzte Eilin endgültig der Kragen und sie fauchte den Rothaarigen wutentbrannt und nervlich sichtlich am Ende an:
"JOEL VERDAMMT NOCHMAL!!!!"
Erschrocken zuckte Angesprochener zusammen, lockerte seinen Griff sogar ein wenig und starrte nun wie eine Reh in die Scheinwerfer eines herannahenden Autos in ihr Gesicht. Manchmal machte er sie so unendlich wütend! Rasch packte sie seine Hände und befreite den armen Jungen aus dem nicht mehr ganz so eisernen Griff des Rothaarigen und zischte ihren Gorilla dabei gleichzeitig in scharfer, schneidender Tonlage an.


"Reiß dich verdammt nochmal zusammen! Unsere Tochter ist gerade in das Haus eines verdammten Verbrechers gerannt der Lucy entführt hat und uns zu erpressen versucht um an seine kleine Tochter zu kommen und alles woran du gerade denkst ist diesen armen Teenager der extra hierher gekommen ist um uns zu warnen anzuschreien und fertig zu machen! Dabei hat er unserem Mädchen nicht mal etwas getan sondern ganz im Gegenteil sogar versucht sie aufzuhalten! Was zur Hölle ist los mit dir?! Kannst du deine Prioritäten bitte mal ein klein wenig überdenken und dich jetzt mal bitte auf das Wesentliche konzentrieren? SOFORT?!"
Wie ein begossener Pudel, die Lippen allerdings mit sichtlich unterdrückter Wut zu einem schmalen Strich zusammen gepresst, trat der Ältere einen Schritt zurück, erwiderte allerdings nichts darauf. Stattdessen vergnügte er sich lieber damit Arjun mit Blicken regelrecht zu häuten.
Unmöglich dieser Kerl. Sie verzog das Gesicht, verdrängte die nach wie vor aufkommende Verzweiflung und wandte sich wieder dem Jungen zu, musterte ihn mit festem, ruhigem Blick.
"Also gut, jetzt bitte noch einmal in aller Ruhe. Was genau hat sie geschrieben. Weißt du was sie vorhatte?"
Offenbar dankbar für ihren mehr oder weniger kühlen Kopf zog er sein Handy aus der Tasche, entsperrte den Bildschirm und wechselte in den Messenger und seinen Chat mit Deirdre. Sofort reichte er ihr das Smartphone damit sie sich die Nachrichten selbst durchlesen konnte während Arjun mit leicht zitternder Stimme versuchte sich zu erklären:
"Ich hatte ihr geschrieben dass sie warten sollte damit ich vorher mit ihnen reden kann und sie sie aufhalten können. Ich dachte sie würde warten aber als sie dann gleich los wollte bin ich in Panik geraten und sofort ohne weitere Umstände hierher gekommen. Wir müssen so schnell wie möglich etwas unternehmen!"


Eilin konnte seine immer deutlicher durchscheinende Verzweiflung gut nachvollziehen, fand es irgendwo in ihrem Hinterkopf sogar ganz niedlich wie viel ihm wohl an Deirdre zu liegen schien. Allerdings musste sie sich gerade selbst mit aller Kraft beherrschen um nicht den Kopf zu verlieren und irgendetwas Dummes zu tun. Ihr war zum heulen zumute. Ihr armes kleines Mädchen... wie hatte sie sowas nur tun können. 
Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte sie wie Joel ihr über die Schulter blickte und die Nachrichten ebenfalls las. Im Gegensatz zu ihr wurde er allerdings leichenblass, schien seine Sprache wieder einmal vollkommen verloren zu haben. Nun es gab immer noch die Hoffnung, dass dieser Tyson sich nicht viel dabei dachte falls Deirdre glaubhaft genug schauspielerte. Leider war die Chance darauf ziemlich gering und als Joel endlich wieder wusste wie er seine Stimmbänder zu verwenden hatte, wurde sie gänzlich ausgelöscht. In einem an Panik grenzenden Tonfall heulte er auf:
"Nein! Das hat sie nicht wirklich getan! Tyson weiß wer sie ist und auch wie sie aussieht! Er wird das sofort durchschauen!"
Was?
"Woher weiß er wie sie aussieht?"
, fragte Eilin, starrte den Rothaarigen einfach nur stumpf an während die Kälte sich durch ihren Körper zu fressen begann. Keine echte Kälte. Es war Sommer und angenehm warm. Eine innere, emotionale Kälte. Erst Lucy, jetzt Deirdre... sie wusste nicht ob sie es ertragen würde wenn einer der Beiden etwas ernsthaftes zustoßen würde.
"Was glaubst du wohl?! Er hat mehr als genug Möglichkeiten alles über jemanden herauszufinden was er will! Selbstverständlich hat er das bei mir auch getan und weiß folglich über dich und unsere Kinder auch Bescheid."
"Du hast ihm von uns erzählt?!"
"Nein!! Er hat es selbst in Erfahrung gebracht. Mal ganz davon abgesehen dass Lucy ohnehin nur aufgrund des Unfalls mit ihm in Kontakt getreten ist und du folglich Teil dessen warst worüber er sich informiert hat."


Wegen des Unfalls....? Sie wollte schon etwas sagen, als sich der Junge wieder zu Wort meldete und in deutlich verzweifelter, aufgebrachter Tonlage durch seine Haare zu raufen begann:
"Könnt ihr bitte aufhören zu streiten? Wir müssen Deirdre da rausholen! Das ist doch jetzt wirklich nicht der Zeitpunkt um über sowas zu streiten!"
Wieder einmal häutete Joel den armen Teenager mit seinen Blicken regelrecht, während Eilin dadurch der Ernst der Lage sofort wieder mit unbarmherziger Macht in die Magengrube schlug. Übelkeit stieg in ihr auf, ließ sie schwer schlucken. Nein. Sie würde es nicht zulassen dass dieser Scheißkerl ihr ihre Tochter auch noch wegnahm! Sie hatte überhaupt nichts damit zu tun!
"Joel."
, zischte sie den Älteren in schneidendem Tonfall an, fixierte ihren Blick auf seine bernsteinfarbenen Augen.
"Wir gehen jetzt zu diesem Tyson und holen unsere Tochter zurück. Und zwar sofort."
Sie sah wie der Ältere ein wenig blass um die Nase wurde, ignorierte das aber und stieß ihm stattdessen ihren Zeigefinger so hart gegen die Brust dass man meinen könne sie wolle ihn aufspießen.
"So-fort."
"Aber Eilin.... wir können nicht einfach..."
"Wir können und wir werden. JETZT."
, fauchte sie aufgebracht, konnte kaum noch an sich halten. Sie wollte ihre Tochter zurück und zwar sofort. Vielleicht hatte dieser Tyson ja auch gar nicht vor sie festzuhalten und sie machten sich umsonst Sorgen. Was sollte er auch mit einem kleinen Mädchen anfangen?
Eilin wusste natürlich dass er versuchen könnte sie mit ihr zu erpressen um an Shereena zu kommen aber das wollte sie gerade nicht einmal denken. Nein sie würde ihre Tochter jetzt sofort zurückholen und wenn sie diesen Scheißkerl dafür verprügeln musste.
Nach wie vor nicht begeistert von der Idee trat Joel von einem Bein auf das Andere, erwiderte nach einem kurzen herum kauen auf der Unterlippe vorsichtig:
"Vielleicht... sollte ich lieber... allein gehen..."
"VERDAMMT NOCHMAL!"
, platzte Eilin nun endgültig der Kragen. Sie stampfte sogar hart mit dem Fuß auf dem Boden auf um ihrem Ausbruch noch ein bisschen mehr Nachdruck zu verleihen.
"Es reicht mir jetzt endgültig mit deiner Scheiße Joel! Wenn du alleine etwas erreichen könntest dann wäre Lucy längst wieder frei und unsere arme kleine Tochter wäre jetzt nicht bei diesem Psychopathen! Ich komme mit!"


Fast sah es so aus als wolle er noch einmal etwas dagegen sagen, noch einmal aufbegehren und es auf die Spitze treiben, doch da kam wieder einmal von unerwarteter Seite Hilfe. Nämlich vom Jungen.
"Ich weiß auch wo er wohnt und kann sie hinbringen. Aber wir sollten wirklich-"
Ein melodisches Bimmeln unterbrach Arjun und ließ seinen und Eilins Kopf in Richtung des Rothaarigen rucken. Irritation breitete sich in der Rothaarigen aus und auch Joel wirkte gelinde gesagt verwirrt über das Geräusch. Trotzdem zog er sein Handy nach kurzem Zögern aus der Tasche und starrte auf den Bildschirm. Sie konnte regelrecht sehen wie seine Züge ihm entgleisten. 
„Tyson.“
, murmelte er unbehaglich aber mit einem deutlich besorgten Unterton. Eilin deutend leise zu sein schob er seinen Finger über das Display um den Anruf anzunehmen und ging ans Telefon. Seine Stimme klang erstaunlich ruhig und fest als er sich meldete und fragte weshalb er angerufen hatte.
„Verstehe… Morgen Vormittag? Um wie viel Uhr soll ich da sein? Mhm, okay. Ich komme auf jeden Fall allein.“


Sie hatte nicht gehört was Tyson gesagt hatte aber als sie Joels Antworten hörte konnte sie es gar nicht fassen. Gerade noch hatte sie ihn zusammen geschissen dass sie mitkam und jetzt erklärte er dem Kerl er würde allein kommen. Oh nein. Das konnte er vergessen. So würde er sie nicht abfertigen. Wutentbrannt riss sie Joel einfach das Handy aus der Hand und fauchte in fast schon bedrohlichem, brennendem Tonfall:
„Joel wird nicht alleine kommen. Ich werde mitkommen und wenn du meiner Tochter auch nur ein Haar gekrümmt haben solltest werde ich dir die Eier abreißen und sie dir zum Frühstück servieren!!!“
Und damit legte sie auch schon auf, schlug Joel das Handy regelrecht an die Brust und rauschte zurück ins Haus. Nicht ohne dem vollkommen fassungslos hinter ihr her starrenden Rothaarigen einen Blick zuzuwerfen der der Antarktis in Sachen Kälte Konkurrenz machte.
Dieser kleine Scheißer hatte ernsthaft gedacht er könnte ohne sie gehen! Er könnte sie abfertigen indem er dem Kerl sagte er würde allein kommen! Aber diesmal nicht. Niemand würde ihr nochmal ihre Familie wegnehmen. Diesmal würde sie sich nicht so hilflos fühlen wie vor sieben Jahren. Diesmal konnte sie etwas unternehmen und diesmal würde sie etwas unternehmen.

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